Tief oder breit?
Wie baut man eine interessante, glaubwürdige Spielumgebung? Von Sankt Tolkien haben wir alle gelernt, dass dies vor allem Tiefe braucht: eine jahrtausendelange Geschichte, alte Monumente, uralte Sagen. Ich möchte hier argumentieren, dass Breite nützlicher ist als Tiefe, und eine einfache Technik zeigen, wie man das bei der Vorbereitung einer beliebigen Location umsetzen kann.
Tiefe, Breite und Erlebbarkeit
Dabei habe ich gar nichts gegen Tiefe, insbesondere historische Tiefe, ganz im Gegenteil! Wenn ich eine Abenteuer-Location entwerfe, ist eine der ersten Fragen, die ich mir stelle: Was war das früher und wofür wurde es gebaut? Das nutze ich dann vor allem für die Gestaltung der Architektur. So weit, so hilfreich. Ich habe aber manchmal die Erfahrung gemacht, dass manche Spielleitung zu kurz springt. Da werden sehr tiefe Orte oder Settings erarbeitet und diese Tiefe dann durch lange NSC-Monologe oder üppige Handouts vermittelt. (Danke, Strohmann, hier ist dein Lohn für heute.)
Um es auf den Punkt zu bringen: Tiefe ist wertlos, wenn man sie nicht erlebbar macht. Die meisten Spielenden interessieren sich viel weniger für unser tolles Worldbuilding als es uns lieb wäre – das ist die traurige Wahrheit, der wir uns hier stellen müssen. Also gib den Spielenden keinen Handout, wo die Geschichte des Klosters von Santa Corrida erzählt wird, sondern lass sie in den Klosterruinen Spuren finden – das Schlachtfeld wo die Äbtissin ihren letzten Kampf gegen die Ghoule focht, der von den Ghoulen aufgegrabene Friedhof, der geschändete Altar.
Erlebbarkeit ist die große Stärke von Breite. Damit meine ich, dass einzelne Teile einer Location (seien es Räume, Hexe oder Knotenpunkte) mit anderen Teilen horizontal verknüpft sind. Tiefe und Breite stehen nicht in einem logischen Widerspruch zueinander, denn ein breites Setting kann auch tief sein. Es geht mir mehr um eine Frage der Prioritäten. Da unsere Zeit als SL begrenzt ist, schafft Breite eine unmittelbare, erlebbare Aufwertung einer Location, mehr als wenn man eine lange Vorgeschichte verfasst, die dafür keinen Weg ins Spiel findet.
Breite schaffen
Man kann Breite ganz einfach dadurch schaffen, dass man Verbindungen zwischen Orten schafft. Damit meine ich nicht Reiseverbindungen bzw. Wege, sondern eher Verweise – etwas das man an Ort A sieht, findet oder lernt, verweist auf Ort B und dessen Inhalt. Die Spielenden bekommen so einen Hinweis, dass es einen Ort B gibt und was sich dort befinden mag. Sie erleben eine Spielwelt, die größer ist (und sei es nur ein bisschen) als das Sichtfeld ihrer SCs.
Das lässt sich ganz einfach bewerkstelligen: Nimm die Karte deiner Location und werfe zwei Münzen drauf. Die Orte, wo die Münzen landen, erhalten eine Verbindung. Oder du würfelst zwei Räume zufällig aus.
Verbindungen können z.B. sein:
- Ein Objekt, das in Ort A gehört, aus Ort A stammt oder einen Bezug dazu hat, liegt in Ort B.
- Ein NSC in Ort A hat Informationen über Ort B und/oder einen besonderen Bezug zu Ort B.
- Spuren führen von Ort A nach Ort B.
- Ein Schriftstück in Ort A enthält Informationen über Ort B.
- Man erhält in Ort A eine Vision oder ein übernatürliches Omen zu Ort B.
Du kannst entweder vor dem Würfel- oder Münzwurf entscheiden, was Ort A und was Ort B (also wo der Verweis ist, worauf verwiesen wird), oder danach. Ich würde eher dazu raten, es nach dem Wurf zu machen, und in der Regel den Verweis dort zu platzieren, wo es den Spielenden schneller begegnet. Ein Hinweis nahe des Eingangs, dass sich irgendwo eine geheime Schatzkammer befindet, ist interessanter, als ein Hinweis in der Schatzkammer, dass es irgendwo einen Eingang geben muss…
Beispiel
Ich zeige euch die Anwendung anhand meiner Location „Das Blaue Tor“. Die hat noch nicht besonders viel Breite, u.a. wegen des sehr reduzierten Platzes im Dokument, und könnte noch ein wenig mehr davon vertragen. Das Blaue Tor hat 12 ebenerdige Räume, 3 im Obergeschoss (13-15) und 6 im Untergeschoss (16-21). Sechs Würfe mit einem D21 ergeben folgende Kombinationen: 9-U2, O2-U5, 2-10.
- Der Ghul in der Kaserne (9) erhält von Morgenröte dem Folterdämon das Fleisch von dessen Opfern (U2), um ihn als eine Art „Wachhund“ für den Dämon zu haben. Im Lager des Ghuls findet man mehrere blutgetränkte Säcke mit dem Aufdruck der Greifenlegion. Der Ghul kann Auskunft über Morgenröte und seinen Folterkeller geben, wenn man ihn lebendig fängt.
- Auf den Wänden der Äußeren Verteidigung (O2) ist dicker, schwarzer, langsam pulsierender Schleim. Dies ist ein Hinweis auf die Nähe von Dornenschweif dem Oberteufel, der im Ritualraum eingesperrt ist (U5). Abendstern das Teufelchen (Zufallsbegegnung) hat diesen Schleim gefunden, was ihn auf die Idee gebracht hat, hier nach Dornenschweif zu suchen.
- Auf die Wände des Torgangs (2) sind mit Kreide alte, verwitterte Zalú-Schriftzeichen geschrieben worden. Diese zeigen die Tarife des illegalen Zolls, welchen die Kommandant:innen der Greifenlegion erhoben haben, und deren Gewinne im Büro der Kommandatur (10) und anderswo im Blauen Tor verborgen sind.